Paschimottasana
4. Dezember 2022

20: Lasse die Dinge zu Dir kommen

Ich sitze auf meiner Yogamatte in Paschimottasana. Dabei sind meine Beine lang gestreckt und parallel, ich beuge den Oberkörper aus der langgezogenen Mitte samt entspannt ausgestreckter Arme weit nach vorn und sinke tiefer und tiefer und tiefer und tiefer in die sitzende Vorwärtsbeuge hinein. Je länger ich hier so sitze, desto weicher werden meine Muskeln, meine Sehnen, meine Bänder. Bis ich meine Knie küssen kann. Ich gebe mich hin, der Bewegung, der Asana, meinem Atem, meinem Flow, der Zeit, dem Leben und bevor ich ganz versinke und nie wieder auftauche, fällt mir ein, dass ich ja gar nicht alleine bin. Ich befinde mich mitten in der Yogastunde und erzähle den anderen, was wir so machen und worauf sie bitte achten sollen, während sie gemeinsam mit mir Yoga praktizieren. Also: Auftauchen und weitermachen. Die mit mir Yogierenden haben mich in der Zwischenzeit höchstwahrscheinlich mindestens einmal verflucht und sich gefragt, ob das hier je wieder aufhört. Wahrscheinlich haben sie, während sie in Paschimottasana sitzen, mental Einkaufszettel geschrieben oder überlegt, was heute noch so zu tun ist und dabei zugehört, wie ich über das Gras erzähle. Im Idealfall sind sie einfach mit mir abgetaucht. Je länger wir in einer Position bleiben, desto tiefer wirkt sie. Immer. Aber das muss man aushalten lernen. Wenn man will. Und Paschimottasana unterstützt die Hingabe und die Geduld. Auf dem Weg dahin ist manchmal doof, weiß ich. Echt.

Wenn man an einem Grashalm zieht, wächst er ja nicht schneller. Manchmal reißt er einfach mal ab oder es tut sich: Nichts. Ziehen nützt also nix, das Gras wächst, wie es wächst, sowohl über Ereignisse als auch auf meiner echten Wiese. Mit der Zeit.

Im Sommer habe ich allerdings tatsächlich in Frage gestellt, ob es wirklich wieder wächst, mein Gras: Es war braun, es war weg, es war verdorrt, verbrannt und aufgefressen. Dann kam nur ein bisschen Regen und es wurde wieder grün, unglaublich! So unfassbar schnell, dass ich tatsächlich beim Wachsen zuschauen konnte… Wenn alles so schnell gehen würde…

Geduld war ja nie so meine Stärke. Genaugenommen habe ich immer schon alles gleichzeitig gemacht. Was zur Folge hat, dass eigentlich alles noch länger dauert. Weil ich mich quasi unterwegs selbst überhole. Dann muss ich wieder aufwischen, was ich in der Eile verschüttet habe, bleibe an Türklinken hängen und muss wieder zurück gehen, damit meine Strickjacke nicht kaputtreißt. Ganz beliebt ist auch der Hüftknochen, der blau ist, weil ich zu schnell um die Ecke gegangen bin. Und mal eben zwischendurch Fußnägel lackieren. Das funktioniert wirklich super. Nicht.

Hat schon mal jemand versucht, einer Katze zu sagen, dass sie sich bitte beeilen soll? Wenn ich zum Beispiel los möchte oder einfach wirklich losmuss, hat meine kleine Katze besonders viel Zeit. Rein oder raus? Sie weiß es dann immer nicht und probiert in der Tür stehend aus, was besser sein könnte. Und falls ich tatsächlich auf die Idee komme Druck auszuüben, na, wer weiß es? Dauert es noch länger, natürlich.

Ein besonders guter Geduldstrainer ist ja auch mein Laptop: Je öfter ich die Entertaste drücke, desto länger dauert es. Systemabsturz, Neustart, einfach mal gar nix mehr machen und auch nicht sagen was los ist – so Geräte sind da ja gnadenlos konsequent. Das kann ich schon bei Menschen gut leiden, Geräte treiben mich da gerne echt an meine Grenze. Und darüber hinaus.

Ich habe eine Zeit lang in einem Haus gewohnt, in dem es nur seeeehr schlechten und laaaangsamen Internetempfang gab. Und wenn ein Schiff auf der Mosel vorbei geschippert ist, die war nämlich knapp vor meiner Haustür, war das Lämpchen manchmal rot. Dann gab es dazu noch Störungen im Empfang. Ich hatte die Wahl: Ärgern oder Zeit nutzen. Nachdem ärgern mich jetzt nicht soooo weitergebracht hat, habe ich dann einfach irgendwann angefangen in der Zwischenzeit irgendwas anderes zu machen, lesen oder Wäsche aufhängen oder so.

Ich habe ja, wenn ich anfange zu kochen, meist ziemlich großen Hunger. Weil ich immer so lange irgendetwas mache, bis ich mir Zeit zum Essen nehme, dass ich gefühlt kurz vorm Verhungern bin. Beim Probieren, ob es nun endlich gut ist, verbrenne ich mir natürlich die Zunge – verdient.

Jetzt so mit vierundvierzig ist das echt schon besser geworden. Zumindest höre ich mir jetzt selbst zu, zum Beispiel wenn ich über Achtsamkeit rede und praktiziere das dann auch mal mehr mal weniger in meinem Alltag. Vieles geht ja in Ruhe tatsächlich interessanterweise deutlich schneller und verbraucht viel weniger Energie, sehr praktisch. Die nutze ich dann einfach für andere Dinge, die mir wichtig sind. Schreiben zum Beispiel.

Als ich in der akuten Hof – Such – Phase war und auf den zu mir passenden Mann gewartet habe und gerne ein Fohlen von Peppy wollte und ein Pony und meine Freiheit und ein schönes Auto und so, da hat mein Yogitee mir immer und immer wieder „Lasse die Dinge zu Dir kommen“ auf seinem Anhängselschild mitgeteilt. Ich bin fast verrückt geworden. Fast. Dann hat mich meine Geduld gerade noch erreicht und ich habe gewartet.

Ich bin so viel besser darin zu machen als zu warten. Und dann noch der blöde Satz „Geduld lernst Du durch Geduld.“ Haha. Geduld ist also das, was man nicht hat, während man darauf wartet, dass was passiert. Und wenn man das dann aushält, obwohl man eigentlich überhaupt gar keine Lust dazu hat, dann ist das die erlernte Geduld. Und ob man geduldig ist, zeigt sich dann in dem, was man da so macht, in und mit der Zwischenzeit, während man so tut, als sei man geduldig.

Es hat tatsächlich einige Jahre gedauert, bis ich keine Einkaufszettel und To – Do – Listen mehr in irgendwelchen Asanas auf meiner Yogamatte gemacht habe. Und bis ich fühlen konnte, dass langsam schneller und ruhiger und sinnvoller für mich ist. Hätte ich auch früher draufkommen können. Wenn ich Zeit dafür gehabt hätte.

Mögen also die Dinge zu mir kommen. Wenn die Zeit dafür reif ist. Bis dahin trinke ich Tee. Und mache. Irgendwas.

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