bank Paco
9. Oktober 2022

12: Meine Flemm

Ich hab jetzt mal die Flemm*. Vorübergehend. Eine Kundin hat mir gerade erzählt, Ihr Psychiater, den sie konsultiert habe, hätte ihr Antidepressiva verschrieben. Sie würde gerne etwas ändern wollen, wisse nur nicht wie. Ihr sei bewusst, dass ihr Chaos etwas mit ihr selbst zu tun habe und sie brauche jetzt bitte Unterstützung beim Aufräumen. Und nicht nur Antidepressiva. Das würde ja nicht wirklich etwas ändern. 

Beim gestrigen Gesundheitstag einer sagen wir Institution bei uns im Centrum war ich erst ganz schön irritiert: Was ist denn hier bitte für eine Stimmung? So zurückhaltend, so vorsichtig, so ich weiß auch nicht so genau wie. Auf jeden Fall mir eher unbekannt. Und dann wurde es nicht nur durch den Ofen wärmer, auch die Menschen fühlten sich während unserer Aktivitäten immer nahbarer an. Und gaben am Ende des Tages das Feedback, wie schön es war, wie entspannt sie sich fühlen, es habe Spaß gemacht, wie angespannt und gestresst sie gewesen seien, als sie ankamen, wie viel zu viel ihnen derzeit vieles ist und wie sehr sie die Auszeit genossen haben. Ich hoffe, sie hallt noch lange bei ihnen nach, die Auszeit. Und sie nehmen das Gefühl mit nach Hause. Und streuen ein bisschen Glitzer in ihre stressige Alltagswelt.

In den sozialen Medien, wo ich mich ja manchmal so herumtreibe, bekomme ich ja immer wieder suggeriert: Nimm Dein Leben in die Hand, alles ist eine Frage der inneren Einstellung, mach was draus, Du kannst das, Du hast die Macht blabla.  Ich empfinde es als ganz schön nervig. Manchmal. So aufdringlich gut drauf und manche der Darsteller*innen kenne ich sogar persönlich: Sind sie nicht. Immer gut drauf, meine ich. Bin ich auch nicht. Und heute schon gar nicht mit meiner Flemm.

Wie bitte passt das denn jetzt zusammen? Alle Menschen, die mir hier in meiner Arbeit begegnen, sind Menschen, die irgendwas gelernt und in ihrem Leben bereits so einiges gemacht und erlebt haben: Manche haben studiert, manche sind wie ich praktischer unterwegs, manche sind auch schon ganz schön lange auf diesem Planeten, andere sind noch jung. Und haben immer wieder sich selbst auf die Beine gestellt. Und viele, nicht alle, sind heute ganz schön am Limit. Warum machen die nicht was sie wollen?

Weil sie nicht können. Erst Mal. Weil es ganz viele Gründe und Umstände und Verbindlichkeiten und so manche Abhängigkeit gibt, die sie daran hindert. Und unser Weltgeschehen macht vielen echte Angst. Um sich, ihre Lieben, um das, was ihnen wichtig ist. Das will ja alles wohl überlegt sein, so eine Veränderung. Und dann braucht es ja auch noch Mut, ganz viel Selbstliebe oder von mir aus auch ein Stück Egoismus und Verrücktheit, nicht mehr mitzumachen bei dem Spiel des Lebens, bei dem es sich um Leistung, funktionieren und dem System dienen geht. Wir haben die Regeln so gelernt, so macht man das, das sitzt. Von Generation zu Generation.

Als Jugendliche und ich glaube auch schon als Kind hatte ich eine Dauerflemm, eine Flemm – Flatrate quasi. Weil mir das alles so seltsam vorkam, was die Menschen so machen. Warum macht man ganz viel, was einen nicht glücklich macht? Und warum soll ich da mitmachen? Das ist doch verrückt. Also war ich verrückt. Das ist einfacher fürs System.

Jetzt also kommen diese Menschen zu mir und haben die Idee, dass ich eine Idee habe, wie man gesünder, glücklicher, zufriedener leben kann. Ein allgemeines Rezept habe ich tatsächlich nicht. Oder vielleicht ja doch. Wie wäre es denn, wenn wir alle tatsächlich feststellen, dass wir das System sind? Also uns nicht mehr so begreifen, dass wir ja nix machen können. Die Frau, die keine Psychopharmaka nehmen möchte, um dann weiter zu funktionieren, sondern lieber an sich arbeiten will, hat es eigentlich auf den Punkt gebracht: Ich möchte etwas an meiner Einstellung ändern. Damit sich wirklich etwas ändert. Ein guter Plan. Ich hör jetzt mal wieder auf mit meiner Flemm und mache das. Möge die Macht mit uns sein. Weltschmerz produziert Weltschmerz. Und Glück verdoppelt sich, wenn man es teilt. Dabei?

*Bedeutung: “Ich hab die Flemm” – Allgemein ist jemand der “Die Flemm hat” nicht gut drauf, hat keine Lust und ist genervt. Dies äußert sich durch eine gewisse Gleichgültigkeit, ein gewisses Desinteresse und Lustlosigkeit, sowie Traurigkeit und Niedergeschlagenheit. “Ich hann de Flemm.” – “Ich hab die Schnauze voll.” “Die Flemm machd sisch brääd!”“Wer die Flemm hat, der geht Hemm.”

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